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Ein Septemberabend 1836

Kalt ist es an diesem Septemberabend des Jahres 1836. Die ältere Frau sitzt auf der kleinen Bank vor der Haustür und schaut gedankenvoll der Sonne nach, die fast schon hinter der großen Scheune versunken ist. Ihre letzten Strahlen lassen das Wasser im Teich wie zum Abschied des Tages blinzeln. Der Blick der Frau schweift hinüber zum Schafstall, ihre Gedanken sind sorgenerfüllt um die Zukunft der 550 Tiere, die sich schon zur Ruhe begeben haben. Es sind aber auch die Sorgen um die nächsten Wochen. Der Herbst bricht an, die Ernte ist einzubringen. Vor dem Winter ist auch noch die eine oder andere Kleinigkeit an den Gebäuden zu erledigen.

Wenn doch Wilhelm noch da wäre. Er ist viel zu früh gegangen. Unerwartet vor allem. Gemeinsam wollten sie die Pachtzeit noch zu Ende führen und sich dann den wohlverdienten Lebensabend gemeinsam schön bereiten. Bis zu Walpurgis des kommenden Jahres wären sie noch in der Pflicht der Stadt gegenüber gewesen, dann hätten sie die letzten sechs Jahre Pacht vollendet. Die Verlängerung um weitere sechs Jahre wollten sie ohnehin nicht in Anspruch nehmen, dafür waren sie schon zu alt. Mit seinen über sechzig Jahren wollte sich Wilhelm das nicht mehr antun. Zu schwer waren die vergangenen Jahre. Sie hatten immer noch mit den Verlusten zu kämpfen, die das Gut in den 1810er Jahren erlitten hatte.

1813 hat die Zeit der Probleme eingeläutet. Wilhelm hatte im April gerade den Pachtvertrag zum zweiten Male abgeschlossen und zu Walpurgis die neue sechsjährige Pachtzeit begonnen. Die vorhergehenden sechs Pachtjahre waren sehr erfolgreich gewesen. Wilhelm hatte sogar das Brennhaus neu errichtet mit zwei Brennöfen. Der erzeugte Schnaps warf einen guten Gewinn ab. Doch dann kam das Jahr des Napoleon. Vom Durchzug der napoleonischen Truppen im Mai 1813 war hier draußen vor den Toren der Stadt nicht so sehr viel zu spüren. Dann kamen aber die Einquartierungen der Stadtbewohner, die beim großen Brand alles verloren hatten. Es waren ja nicht nur die Leute an sich. Sie wollten auch mit Essen und Trinken versorgt werden. In der Stadt gab es doch nichts mehr. So lange waren sie glücklicherweise auch nicht hier. Der Wiederaufbau in der Stadt ging recht zügig voran, sodass am Ende des Sommers die meisten schon wieder in ihre im Wiederaufbau befindlichen Häuser zurückgekehrt waren.

Dann kam der September. Und Napoleon kam ein zweites Mal. Aber mit ihm auch jene, die ihn wieder nach Hause trieben. Und die waren leider im Benehmen gegenüber den einfachen Leuten nicht besser als die Soldaten von Napoleon. Im September 1813 hatten die Kosaken nahezu alle Vorräte des Ritterguts geplündert. Nicht nur die Wintervorräte für die Bewohner, sondern auch die Futtervorräte für das Vieh, allen voran für die Schafe, waren so stark dezimiert, dass der Winter ein sehr schwerer geworden war. Das Gut stand kurz vor dem Ruin. Die Schafherde war ein gutes Stück kleiner geworden.

1814 und 1815 ging es wieder ein wenig aufwärts. Die Herde wuchs wieder auf ihre alte Größe an, die Vorräte in den Scheunen und Speichern konnten wieder gut aufgefüllt werden. Dann kam das Jahr ohne Sommer. 1816 gab es praktisch keine Ernte. Das Getreide verfaulte auf den Feldern, so viel Regen gab es. An Kartoffelernte war nicht zu denken. Man holte aus der Erde fast weniger heraus, als man im Frühjahr reingelegt hatte. Ein furchtbares Jahr voller Entbehrungen und Verluste. Wissenschaftler werden später einmal feststellen, dass der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien im April 1815 an dem nassen und kalten Wetter des Folgejahres Schuld war. Aber das wusste in dem schweren Jahr noch niemand. Alle wunderten sich nur über das außergewöhnliche Wetter, welches es seit Beginn des Jahres gab. Dauerregen prägte die Wochen während und nach der Aussaat. Einen Sommer mit Wärme und Sonnenschein gab es überhaupt nicht, stattdessen nur dichte Wolken und immer wieder Regen. Kalt war es außerdem. Was auf den Feldern nicht verfaulte, wuchs nicht wegen der fehlenden Wärme und den fehlenden Sonnenstrahlen. Auch das sich langsam bessernde Wetter im September konnte da nichts mehr retten. Die Ernte des Jahres war praktisch völlig verloren. Und damit einher gingen natürlich wieder die Verluste im folgenden harten Winter. Für die Schafe war schlicht kein Winterfutter mehr da, die Herde wurde wieder einmal erschreckend klein. Erneut stand das Rittergut vor dem Ruin. Aber irgendwie haben doch alle diesen schweren Winter überstanden. Und obgleich die Ernte im folgenden Jahr auch nicht vom Besten war, ging es doch ganz langsam wieder aufwärts.

Die folgenden Jahre brachten das Rittergut wieder voran, es ging tatsächlich wirtschaftlich wieder aufwärts. Die Schafherde wuchs nach und nach wieder auf ihre bisherige Größe von knapp 600 Tieren an, es gab genug Futter für die Tiere. Die Brennerei hatte auch gut zu tun. Die Scheunen und Speicher füllten sich von Jahr zu Jahr mehr. Und auch den Bewohnern und Bediensteten des Rittergutes ging es wieder besser. Die jährliche Pacht konnte in den 20er Jahren wieder problemlos zu den Fälligkeiten gezahlt werden, es mussten keine Stundungen mehr aufgenommen werden. Und schließlich konnten auch einige Reparaturen an den Häusern des Guts vorgenommen werden, die schon längst überfällig waren. Die 1820er Jahre waren wirklich gute Jahre für das Rittergut Pickau. Auch die Geißmannsdorfer Bauern packten kräftig mit an, wenn sie ihre Pflichtleistungen für das Rittergut zu erbringen hatten. Wussten sie doch, dass es ihnen gut ging, wenn es der Stadt gut ging. Denn die meisten Einnahmen und Erträge des Rittergutes flossen schließlich in das Stadtsäckel.

So ließen die Gedanken der älteren Frau die letzten 25 Jahre des Rittergutes Pickau vor ihren Augen vorüberziehen. Sie hatte alles selbst miterlebt. Und die Jahre waren so bewegt, es gab die schweren Jahre. Es gab aber auch die Jahre des Aufschwungs und der wirtschaftlichen Blüte. Eng verbunden fühlte sie sich mittlerweile mit dem Gut.

Unter diesen guten Bedingungen fiel es Wilhelm leicht, den Pachtvertrag mit der Stadt damals erneut zu unterschreiben. Hatte doch das Rittergut die besten Aussichten, wieder zu wirtschaftlicher Blüte zu gelangen wie in den vergangenen Jahrhunderten. Alles sah gut aus damals im April des Jahres 1831, der Blick in die Zukunft war optimistisch. Aber bereits ziemlich genau ein Jahr später traf es das Rittergut finanziell wieder hart. Im März ’32 wurde das Gesetz über die Ablösung und Gemeinheitsteilungen in Sachsen erlassen. In dessen Folge entfielen die jährlich zu erbringenden Pflichtleistungen der Bauern für das Rittergut. Ab sofort mussten die Bauern für ihre Arbeit im Gut bezahlt werden. Auf die Leistungen der Bauern war das Rittergut aber angewiesen, sonst war die Arbeit nicht zu schaffen. Also musste Geld her. Geld, welches im Rittergut nach wie vor noch knapp bemessen war. Andere Dinge mussten dafür gestrichen werden. Reparaturen an den Häusern oder gar Erweiterungen waren nicht mehr möglich.

So wich die Euphorie, mit der Wilhelm in den Pachtvertrag eingestiegen war, nach und nach der nüchternen Erkenntnis, dass das Rittergut nun nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben war. Die Schulden stiegen von Jahr zu Jahr. Nach nur vier Jahren waren sie auf über 855 Taler angewachsen.

Vielleicht hat die wachsende Last des Ritterguts mit dazu beigetragen, dass es Wilhelm in seinen letzten Jahren gesundheitlich zusehends schlechter ging. Er konnte nicht mehr so aktiv wie früher die Geschicke des Guts leiten. Immer stärker lag die Bewirtschaftung des Ritterguts in den Händen seiner Frau Caroline, die nun auf der kleinen Bank vor dem Haus saß und in ihre Gedanken versunken war. Ein reichliches halbes Jahr lag noch vor ihr, in welchem sie an den Pachtvertrag gebunden war. Ein wenig Hilfe bekam sie von ihren Kindern, ihrem Sohn Herrmann und ihrer Tochter Emma mit ihrem Mann Heinrich. Aber sie konnten die Arbeit von Wilhelm nicht fortführen, hatten sie sich doch ihre eigenen Leben sich aufgebaut. Herrmann hatte seine Pfarrstelle in Herwigsdorf. Und Emmas Mann Heinrich hatte seine Glaserei und seine Arbeit als Stadtrat. Da blieb für beide keine Zeit, sich intensiver um das Rittergut zu kümmern.

Im kommenden Jahr zu Walpurgis ist Schluss! Das Rittergut Pickau ist wirtschaftlich am Ende. Wir wollen sehen, dass wir noch halbwegs durch den Winter kommen und den Pachtvertrag einvernehmlich mit der Stadt beenden können. Im Stadtrat hat man wohl schon gemunkelt, das Rittergut komplett aufzugeben und als solches nicht mehr weiterzuführen. Pächter wird sich kein neuer mehr finden. Und die Kosten, das Gut wieder auf Vordermann zu bringen, sind für die Stadt viel zu hoch. Von den fehlenden billigen Arbeitskräften ganz zu schweigen, die es bis 1832 in Form der Bauern aus den umliegenden Dörfern gegeben hat.

Es ist finster geworden über den alten Dächern der Häuser des Ritterguts. Caroline Tubesing, Witwe des letzten Pächters des Ritterguts Pickau Diederich Wilhelm Tubesing erhebt sich von der kleinen Bank vor der Haustür. Sie wirft noch einmal einen Blick über die Häuser des Gutshofes, wie sie es jeden Abend macht: linkerhand der große Schafstall mit dem kleinen Milchhaus davor, der Teich, in dessen Wasser sich mittlerweile die silberne Mondsichel spiegelt, das Brennhaus, dessen beide Brennöfen schon lange kalt sind, die kleine Scheune mit dem großen Gewölbe daran und schließlich die große Scheune, die trutzig den Hof nach Westen hin abschließt. Schweigend wie an jedem Abend seit dem 4. Juni, als ihr Wilhelm verstorben war, und vor allem allein schließt die ältere Frau die Haustür und begibt sich sorgenvoll zur nächtlichen Ruhe.

Oktober 1836. Seitens der Stadträte stand bereits fest, dass das Rittergut Pickau in der bestehenden Form nicht wirtschaftlich weiterzuführen war. Die Gedanken der Auflassung wurden konkreter. Zum teilweisen Erlass der hohen Schuldenlast wurden große Weideflächen aus dem Pachtvertrag entschädigungslos herausgelöst und damit die Schulden auf 600 Taler verringert. Das waren vor allem die Weiden südlich des Rittergutes zwischen dem Pfaffenholz und Geißmannsdorf. Vor Ablauf des Pachtvertrages im April des kommenden Jahres waren diese Flächen ohnehin nicht mehr als Weiden nutzbar.

Der Winter 1836/37 kam zeitig übers Land. Es war schwer, das Rittergut am Laufen zu halten. Schwer war es auch, die 550 Schafe satt zu bekommen. Aber irgendwie gelang es. Und auch die 16 Rinder und die zwei Pferde sind gut über die kalte Jahreszeit gekommen. Und diese zog sich lange hin. Im März lag noch immer Schnee auf den Feldern und Wiesen, die Aussaat konnte noch lange nicht beginnen. Die Schafe konnten auch noch nicht auf die Weiden, der Boden war noch viel zu nass und es gab noch Nachtfröste. Aber auch dieser schwere Winter ging vorüber. Dieser letzte Winter mit der Last des Rittergutes auf der Familie Tubesing. Und es sollte auch der letzte Winter des Rittergutes Pickau sein.

Die Rückübergabe des Rittergutes an die Stadt Bischofswerda sollte eigentlich am 1. Mai 1837 vollzogen werden. Wegen des schweren Winters aber gestattete die Stadt Bischofswerda den Erben des Pächters Tubesing, die Rückübergabe erst am 24. Mai durchzuführen und Teile der Vorräte an Stroh und Heu selbst bis dahin zu veräußern. Die Tiere sowie das Inventar sollen zur Tilgung der Schulden vor der Rückübergabe versteigert werden, um die Familie Tubesing so schuldenfrei wie möglich aus dem Pachtvertrag zu entlassen.

So fand schließlich die große Versteigerung am 24. und am 25. Mai 1837 im Hofe des Ritterguts statt. Am ersten Tage, einem Dienstag, wurden die Tiere versteigert. Die 16 Rinder und die beiden Pferde konnten vollzählig am ersten Tag für ungefähr 550 Taler versteigert werden. Leider konnten nur 113 Schafe für insgesamt 230 Taler veräußert werden. Der Rest der Herde verblieb zunächst noch im Rittergut und wurde später verkauft. 150 Hammel fanden Anfang Juli ihre neuen Besitzer, die verbliebenen Mutterschafe und Lämmer im September. Dafür konnte nahezu das gesamte Wirtschaftsinventar am zweiten Tage für etwa 275 Taler versteigert werden.

Schließlich erfolgte zwei Tage später, am Sonnabend, dem 27. Mai 1837, die Übergabe des Rittergutes Pickau durch die Erben des Wilhelm Tubesing an die Stadt Bischofswerda. Die Aufrechnung aller Erlöse und Verbindlichkeiten aus der Abwicklung des Guts ergab eine Restschuld von 874 Talern, welche die Pächtererben noch an die Stadt zu zahlen gehabt hätten. Dank der hinterlegten Pachtkaution in Höhe von 800 Talern verringerte sich die noch zu begleichende Restschuld auf 74 Taler. Caroline Tubesing ersuchte die Stadt Bischofswerda um Erlass auch dieser 74 Taler, indem sie auf den guten Zustand der gesamten Rittergutswirtschaft verwies sowie auf die zurückgelassenen Vorräte an Pferdeheu und Stalldünger und die Wolle der Schafe, die noch unmittelbar geschoren werden müssen. Dem Antrag wurde wohl stattgegeben, sodass die Erben des Postmeisters Diederich Wilhelm Tubesing de facto schuldenfrei aus dem Pachtvertrag entlassen werden konnten. Die Verwaltung und Bewirtschaftung der Gebäude und der verbleibenden Schafe übernahm der städtische Schafmeister Johann Gottlieb Gräfe.

Damit war im Mai 1837 das endgültige Aus des Ritterguts Pickau eingeläutet worden. Es verblieben bis September noch die restlichen Schafe im Gut, die Schafstall-Gerätschaften wurden schließlich am 22. November veräußert.

Die weit über 400jährige Geschichte des Ritterguts Pickau, welches aus dem Vorwerk einer Tributburg der Burggrafschaft Camentz hervorgegangen war und vielleicht sogar seine Anfänge in einer slawischen Rundsiedlung hatte, fand ihr Ende. Mit Ausnahme des Wohnhauses sollte der Gutshof in den kommenden vier Jahren recht schnell verschwinden und sich das Bild von Pickau gründlich wandeln.

1839 verliert Pickau seine Eigenständigkeit und wird nach Geißmannsdorf eingemeindet. Bereits Ende 1838 waren die Flächen des Rittergutshofes in fünf Bauparzellen vermessen und eingeteilt worden. In Verbindung mit den Baugrundstücken wurden auch die Baumaterialien aus dem Abriss der großen Scheune, des Kuhstalls sowie der Brennerei und der Milchschwemme zum Aufbau der neuen Bauernhäuser mit verkauft. Die Kaufverträge wurden am 20. März 1841 abgeschlossen. Schon auf einer „Karte vom Rittergute Pickau“ von 1842 sind die neuen Bauernhäuser dargestellt. Aus dem Gutsblock mit den kreisförmig angeordneten Gebäuden hatte sich ein kleines Straßendorf gebildet. Ein neues Kapitel im Geschichtsbuch von Pickau wurde aufgeschlagen. Aber das ist eine neu zu erzählende Geschichte.

Uwe Tilch
Historischer Stammtisch Pickau


Quellennachweise

Stadtarchiv Bischofswerda:
Zusammengefasste Akte 1831 bis 1838 zum letzten Pachtvertrag des Rittergutes Pickau 1831, zum Tod des letzten Pächters Tubesing 1836 und zur Auflassung, Versteigerung und Verkauf des Rittergutes 1837

Stadtarchiv Bischofswerda:
Plan vom Ritter-Guthe Pickau mit den dazugehoerigen Fluren, Fr. Aug. Ritter, Pickau, 8. September 1836; Karte 705, fol. 2

Stadtarchiv Bischofswerda:
Karte des Rittergutes Pickau, aufgenommen und gezeichnet von F. A. Ritter, Forsthaus Pickau, den 13. September 1838; Karte 705, fol. 22

Stadtarchiv Bischofswerda:
Karte vom Rittergute Pickau, vermessen im Jahre 1842 von Gustav Ranfftz

Sächs. Hauptstaatsarchiv Dresden:
Gerichtsbuch Bischofswerda Nr. 17, 1837-1848

Dr. Elisabeth Rieger (2020):
Besondere Wetterereignisse, Temperaturen und Niederschläge in ausgewählten Orten der Oberlausitz und dem Schluckenauer Zipfel (von 1376 bis in die Gegenwart) - Schiebocker Landstreicher Heft 15

Bildnachweis:

Titelbild:
Bildquelle: Virtuelles 3D-Modell des Rittergutes Pickau auf der Grundlage der in einer Akte des Stadtarchivs Bischofswerda enthaltenen Gebäudebeschreibungen des Rittergutes, erstellt von Uwe Tilch.
Bildbearbeitung: Digitale Strichzeichnung auf Grundlage eines Bildschirmfotos des 3D-Modells.
Bilderstellung: Uwe Tilch